Wie oft liest man "Was war, das war", "Vergangenes kann man nicht mehr ändern". Doch Ersteres als vermeintliche Begründung zu nutzen, sich nicht mit seinem alten Schmerz, den wir alle in uns mittragen, auseinanderzusetzen gelingt meiner Erfahrung nach auf Dauer genauso wenig wie Zweiteres als fix anzunehmen. Mal ehrlich - wer hatte schon eine gefüllte, sichere Kindheit, in der stimmig dosierte emotionale Nähe der Mutter, liebevolle Wärme, tragende Geborgenheit und väterliche Führung, Umhüllung und Lob an der Tagesordnung waren? Im Moment der tiefen Ehrlichkeit wohl keiner. Mir ist bis heute noch keine/r begegnet. Es geht hier nicht um Schuldzuweisungen an die Eltern. Nein, systemisch betrachtet gibt es Erklärungen, Dynamiken, Ahnenthematiken, die auf die nächste Generation übergegangen sind, weil sie schon in x Generationen davor bestanden haben. Ja, es gibt Gründe. Doch diese nur rational zu verstehen ändert das Geschehen nicht. Diese zu erklären füllt den emotionalen Mangel nicht auf.
Wir Menschen laufen mit mehr oder weniger "halb leeren Behältern der Kindheit" als vermeintlich Erwachsene herum und diese kaum oder gar nicht gefüllten Bedürfnisse der Kindheit in uns rufen, schreien gar nach Erfüllung. Diesen rufenden Bedürfnissen verstandesmäßig zu sagen "Was war, das war - ist vorbei" führt weder zur Erfüllung ebendieser, noch zur Beruhigung des Systems. Denn ein halb volles oder fast leeres "Glas" ruft so lange und immer noch lauter nach dem passenden, stimmigen Inhalt, bis dieser gefüllt ist. Die Zeit spielt dabei keine Rolle. Oder kannst du dich erinnern, dass du deine körperlichen Bedürfnisse, wie Atmen, Essen und Trinken oder Schlafen einfach beiseite stellen konntest mit einer Begründung "ist halt nicht"? Für Bedürfnisse auf emotionaler Ebene ist es kausal gesehen dasselbe.
Was hinzu kommt - Diese nicht gefüllten Bedürfnisse der Kindheit wirken sich tagtäglich auf das Erleben, das Fühlen und Denken sowie das Entscheiden und Handeln des/der Betroffenen aus. Auch ohne das bewusste Wissen darüber. So tauchen kindliche Bedürfnisse in Partnerschaften auf und das Unbewusste verwechselt den Partner mit dem Vater, den es sich immer gewünscht hat - der sie umsorgt, ein Zuhause bietet, stundenlang mit ihr kuschelt ohne sexuelle Forderungen zu stellen und sie auf Händen tragen soll. Der Chef wird zum Vater, von dem sich der/die Betroffene um jeden Preis Anerkennung, Lob und Bestätigung wünscht, die er von seinem/ihrem Vater nie bekommen hat. Immer noch mehr, immer noch besser, bis dem Chef endlich ein Lob über die Lippen kommt. Bis zur Erschöpfung. Und dann noch mehr. Die Partnerin soll die Lücken der Mutter auffüllen, soll verständnisvoll und liebevoll mit ihm sein, soll sich zurücknehmen, nichts fordern und von der asexuellen Hausfrau über die hervorragende Köchin, bis hin zur Hausverwaltung alles abdecken. Andere Männer werden zu vermeintlichen Konkurrenten, gegen die Er innerlich sowieso schon verloren hat und er sich beschämt und aus Angst vor Bestrafung heimlich zurückzieht. Sie fühlt sich als Frau minderwertig, glaubt, sich gegen andere Frauen in der Partnerwahl nie durchsetzen zu können, weil sie gegen ihre größte Konkurrentin - ihre eigene Mutter - immer verloren hat. Ein anderer versucht über Karriere sich und dem Vater seiner Kindheit zu beweisen, dass er "endlich genügt", was er jedoch selbst über diesen Weg, so nie wirklich fühlen wird. Sie tut alles für ihren Mann, macht alles, gibt sich fast auf - und scheitert. Weil sie sich die Liebe von ihrem Vater der Kindheit erarbeiten wollte. All diese Beispiele aus dem realen Leben haben eines gemeinsam - sie führen noch mehr ins Leid. Und die inneren Bedürfnisse rufen noch lauter. Denn Zeit ist vergangen, Ressourcen wurden gebraucht und das wahre Bedürfnis im Innen ist noch immer ungefüllt. Doch das muss nicht so sein.
Wir können auch rückwirkend noch offene Bedürfnisse der Kindheit füllen. Wir können nicht nur, nein ich rate es jedem dringend. Die alten Wunden der Kindheit sind heilbar. Die offenen Behälter sind befüllbar, auch jetzt noch. Unsere verletzten kindlichen Anteile sollen das bekommen, was sie so dringend gebraucht haben - Geborgenheit, Sicherheit, Zuwendung, liebevoll in den Arm genommen zu werden, wahre Herzenswärme dabei zu spüren, ein Blick, ein Wort, mit dem alles gesagt ist "Ich mag dich, so wie du bist". "Du bist liebenswert, so wie du bist". Ja, das bist Du.
Nimm Dir einen bedachten Moment der Ruhe und nimm Kontakt auf mit deinen kindlichen Anteilen. Die Anteile, die gelitten haben. Die, die dich seit Jahren, Jahrzehnten suchen, mit dir in Kontakt gehen wollen. Die Anteile, die leise weinen, weil sie sich einsam und im Stich gelassen fühlen. Höre ihnen zu. Sei achtsam. Bedacht. Lass ihnen Zeit. Aber sei da. Jetzt. Für dich. Und erkenne, was sie nun von DIR brauchen. Nicht mehr von den Eltern deiner Kindheit. Von Dir. Und lebe es mit ihnen. Fülle ihnen ihre noch offenen Bedürfnisse. Damit diese Akte der alten Wunden geschlossen werden kann.
Was passiert dann? Die Füllung. Die Erfüllung. Und das auf allen Ebenen. Dein Innerstes bekommt das, was es braucht. Keine Abhängigkeit mehr von Außen. Keine Sehnsuchtsaktionen mehr, mit denen du dich selbst ins Aus stellst, dich aufgibst oder dich aus Bedürftigkeit unter Wert verkaufst. Du spürst deine Kraft, deine Fülle, dein wahres Sein, das sich erst jetzt wahrhaftig entfalten kann. So ist Partnerschaft auf Augenhöhe möglich. Kein Brauchen, aber ein freiwillig, selbstbestimmtes Entscheiden für den anderen. Ein Beruf, weil du tust, was du liebst, es dir entspricht - Für dich. Keine Versagensängste mehr. Keine Verlustängste mehr. Eifersucht war gestern. Heute bist du du - wissend, du kannst dir alles selber geben, alles was du brauchst. Alles ist IN dir.
Ich selbst durfte es erfahren, wie dieses Tun mein Leben, mein Sein, mein Wirken verändert hat. Und ich erlebe es tagtäglich in meiner Praxis, was sich verändert, wenn die alten Wunden der Kindheit geheilt werden. Von uns selbst. Mit uns selbst. Es hinterlässt Frieden. Ein anhaltendes Glücksgefühl. Tiefe Verbundenheit im Innen. Ein Gefühl von All-eins-sein.
Ich wünsche Dir ein erfüllendes, beseeltes Heilen deiner alten Wunden, damit du in deine volle Größe kommen kannst.
Alles Liebe,
Edith
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Verena (Samstag, 24 Juli 2021 16:59)
So klar und so schön geschrieben Liebe Edith! Und ja, ich habe es auch erfahren und gelernt, diese leeren Behälter der Kindheit zu füllen. Und merke immer wieder: Da geht noch was, da ist noch viel Platz, da will immer wieder noch was gefüllt werden. Und es tut gut! Herzlichen Dank dir daher, ich empfinde diesen Text als liebevolle Erinnerung!